Positionspapier:
„Partizipation als Zu-Mutung“

Problemdiagnosen und Handlungsempfehlungen zur Förderung partizipativer Forschung

Dieses Positionspapier wurde von rund 30 Wissenschaftler*innen gemeinsam auf einem Workshop vorbereitet, der vom 27. bis 29. November 2024 auf Schloss Herrenhausen in Hannover stattfand. Der von der VolkswagenStiftung geförderte Scoping Workshop wurde organisiert und moderiert von Profin. Drin. Stephanie Büchner, Drin.Irina Zakharova (Leibniz Universität Hannover), Profin. Drin.Juliane Jarke (Universität Graz) und Profin. Drin.Heidrun Allert (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel).

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Positionspapier „Partizipative Forschung“ (PDF, 163 kbyte)

1. Einleitung

Partizipation und Teilhabe sind für demokratische Prozesse zentral und können zur Bewältigung multipler gesellschaftlichen Krisen eine Schlüsselrolle spielen. Partizipative Forschung fördert soziale Teilhabe und Inklusion, sie bietet Räume für eine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen, in einer Gesellschaft vertretenen Perspektiven und verleiht verschiedenen Stakeholder-Gruppen eine Stimme und Gestaltungspotenzial. Partizipative Forschung bringt damit wissenschaftliche Erkenntnisse und lebensweltliche Erfahrungen in den Dialog und öffnet Gestaltungsräume für alle Beteiligten.

Partizipative Forschung ist im deutschsprachigen Raum erst in den Anfängen ihrer Etablierung: Partizipationsprojekte werden in einer Vielzahl von Communities in den Gesellschafts-, Geistes- und Natur- und Technikwissenschaften vorangetrieben. In der Forschungsförderung werden Forderungen nach partizipativer Forschung als einem empirisch offenen Vorgehen und als Legitimation für einen sozialverträglichen und technologischen Wandel gesehen. Dadurch werden sie oft als präventive Antwort auf potenzielle Risiken und Unsicherheiten multipler gesellschaftspolitischer Krisen begriffen. Zugleich ist partizipatives Forschen eingebettet in die Logiken und Eigendynamiken drittmittelbasierter Forschung. Wie andere Wissenschaftler*innen auch, realisieren Forschende partizipative Projekte in den existierenden Strukturen des Wissenschaftssystems. Zusammen mit dem Erfolg und der Popularität partizipativer Forschung verstärken sich jedoch strukturelle und wissensschaftspolitische Herausforderungen, die dem Anspruch partizipativer Forschung zum Teil diametral entgegenstehen.

In diesem Positionspapier geht es um mehr als die Problematisierung der Arbeitsbedingungen von Wissenschaft oder um ein schlichtes Plädoyer für bessere Forschungsbedingungen. Es geht darum, Mittelgeber und Forschungsorganisationen über die besonderen Anforderungen partizipativer Forschung zu informieren, Handlungsbedarfe aufzuzeigen und Empfehlungen zu bündeln.

2. Charakteristika partizipativer Forschung

1) Die partizipative Forschung ist interdisziplinär, vielfältig und offen. Die Berücksichtigung der Vielfalt von Perspektiven, Bedürfnissen und Interessen im partizipativen Forschungsprozess ist ihr grundlegendes Prinzip und trägt zum Erkenntnisgewinn bei.

2) Das Ziel der partizipativen Forschung ist es, eine Bandbreite unterschiedlicher Perspektiven einzubeziehen. Die Inklusion marginalisierter Gruppen ist unerlässlich, um soziale Gerechtigkeit und demokratische Prozesse zu stärken. Die inklusive Partizipation bedarf einer präzisen und robusten Ausgestaltung, um ihre Wirksamkeit in der Praxis zu gewährleisten.

3) Die spezifischen Vorstellungen von partizipativer Forschung und der ihr zugrundeliegenden Konzepte und Werte müssen für alle am Partizipationsprozess Beteiligten transparent sein. Einer kontinuierlichen Reflexion der Grundannahmen muss Raum gegeben werden.

4) Die Wirksamkeit partizipativer Forschung ist nicht immer quantifizierbar. Die Gütekriterien zur Impact-Messung müssen kontextsensitiv entwickelt werden.

5) Partizipative Forschung lebt in besonderer Weise von Beziehungs-, Kommunikations- und Care-Arbeit. Der damit verbundene Aufwand muss sichtbar gemacht und in den zur Verfügung stehenden Ressourcen berücksichtigt werden.

6) Unklarheiten, Konflikte und Hindernisse sind kein Grund, partizipative Forschung aufzugeben. Gerade im Sichtbarmachen von Konflikten liegt auch ein Ergebnis.

7) Es braucht eine Sensibilisierung, insbesondere von Ethik-Kommissionen für die Besonderheiten partizipativer Forschung, beispielsweise für nicht vorhersehbare Flexibilisierung im Verlauf des Forschungsprozesses. Bei der Entwicklung von Forschungsanträgen ist ein offenes, dem Gegenstand angemessenes, Methodenset zu berücksichtigen, um der Flexibilität der Partizipation gerecht zu werden und Handlungsspielräume offenzuhalten.

3. Problemdiagnosen

Ausgestaltung der Förderpolitik

Ein Großteil der Förderung von partizipativen Forschungsprojekten ist von den Interessen der Mittelgeber geprägt. Dadurch kann der Anspruch von partizipativer Forschung, die Anliegen aller Beteiligten ausreichend zu berücksichtigen, nicht wissenschaftlich fundiert realisiert werden. Dies drückt sich in einer Reihe von Faktoren aus. So ist Forschung zumeist projektförmig finanziert. Das bedeutet, dass alle wesentlichen Ziele, Aufgaben, Schritte und Ergebnisse bereits vor Beginn des Projekts in einem Antrag festgelegt werden. Dies steht der, in der partizipativen Forschung notwendigen, Flexibilität und Offenheit des Prozesses und der Ergebnisse entgegen. Projektförderung fokussiert dabei auf bestimmte Ergebnistypen (z.B. technisches Produkt, Handlungsempfehlung); ‚konstruktives Scheitern‘ oder Umwege sind nicht angedacht. Aber auch die zeitlichen Ressourcen für eine kritische Reflexion des partizipativen Vorgehens fehlen oft. Es zeigt sich zudem, dass in den Forschungsausschreibungen das Verständnis für die benötigten Ressourcen (z.B. Geld, Zeit, Kompetenzen) partizipativer Arbeit oftmals fehlt, und damit zu wenig Mittel für die Ermöglichung von partizipativer Forschung eingeplant werden. Beispielsweise bestehen gerade in der partizipativen Forschung hohe ethische und rechtliche Anforderungen bezüglich der Teilnahme der Beteiligten und des Datenmanagements, aber die notwendige institutionelle Unterstützung ist nicht gegeben, wodurch ein erheblicher Arbeitsaufwand für die Forschenden entsteht. Als Folge finanziell nicht gedeckter Partizipationsarbeit wird partizipative Forschung zwar oft als Ansatz formuliert, kann aber häufig nicht realisiert werden.

Mangelnde Vielfalt der Beteiligungsstruktur

Das Verständnis davon, wie partizipative Forschung ausgestaltet werden kann, ist vielfältig. Dies zeigt sich unter anderem an den Auswahlkriterien und -methoden, mit denen Beteiligte rekrutiert werden. Oft wird Repräsentativität angestrebt, die jedoch häufig der spezifischen Problemstellung oder dem relevanten Anliegen zuwider läuft. Eine solche Herangehensweise hat direkte Auswirkungen auf das Agenda-Setting und die Aushandlungsprozesse innerhalb der partizipativen Forschung, da wichtige Perspektiven und Erfahrungen marginalisiert werden können. Darüber hinaus fokussieren viele partizipative Ansätze auf Individuen und betrachten deren Beiträge isoliert, anstatt bestehende Gemeinschaften und deren kollektives Erfahrungswissen und Erkenntnisinteresse in den Vordergrund zu stellen. Dieser Mangel an Vergemeinschaftungsräumen verstärkt bestehende Machtstrukturen und Ungleichheit.

Beziehungs-, Kommunikations- und Care-Arbeit in der partizipativen Forschung

Partizipative Forschung ist immer auch Beziehungs-, Kommunikations- und Care-Arbeit. Die Einbindung vielfältiger Stakeholder-Gruppen erfordert besondere kommunikative, soziale und interpersonelle Kompetenzen, z.B. für Kontaktaufbau, Moderation und Vertrauensbildung. Diese Leistung wird in der partizipativen Forschung vorwiegend von Nachwuchswissenschaftler*innen getragen, bleibt jedoch zum Teil unsichtbar, unbezahlt und wenig anerkannt. Zugleich ist sie für die erfolgreiche Durchführung der partizipativen Forschung entscheidend. In diesem Kontext ist auch zu bedenken, dass partizipative Forschung oft in multi-disziplinären Projekten stattfindet. Die resultierende interdisziplinäre Zusammenarbeit bringt Vermittlungs-, Verständnis- und Übersetzungsarbeit mit sich, zum Beispiel durch die unterschiedlichen Strukturen, Wissenschaftspraktiken, Anreizsysteme und ungleichen Machtverteilungen der verschiedenen Disziplinen und deren sub-disziplinären Felder. Wissenstransfer und Wirkungsgenerierung erfordern Arbeit, etwa wenn adäquate Kommunikationsformate für unterschiedliche Beteiligten-Gruppen, Trainings oder andere Aktivitäten entwickelt werden müssen, welche die Nachhaltigkeit der Projektergebnisse gewährleisten. Solche Arbeiten können, in der Zeit-, Ressourcen- und Finanzplanung von Forschungsprojekten, aktuell nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Konsens als Problem

Seitens der Mittelgeber besteht die Erwartung, dass das Finden eines Konsenses zentral für den Erfolg eines partizipativen Forschungsprojekts ist. Diese Ausrichtung auf Einvernehmen vernachlässigt jedoch, dass Dissens, Konflikte und die Pluralität von Erfahrungen und Meinungen wertvolle Erkenntnisse kreieren können. Spannungen und Irritationen entstehen durch die unterschiedlichen Perspektiven, Bedürfnisse und Interessen der Beteiligten – und genau darin liegt ihr Potenzial. Wenn in partizipativer Forschung hingegen versucht wird, Spannungen zu vermeiden oder zu verdecken, anstatt sie sichtbar zu machen und zu nutzen, können sie die Erkenntnisbildung und den wissenschaftlichen Fortschritt eines Projekts blockieren. Ein produktiver Umgang mit Dissens setzt voraus, dass Konflikte nicht als Hindernisse, sondern als Gelegenheiten für kritische Reflexion, Veränderung und Verbesserung betrachtet werden.

Inadäquate Evaluation wissenschaftlicher Güte und gesellschaftlicher Wirkung partizipativer Forschung

Aktuell wird partizipative Forschung nach Kriterien anderer Forschungslogiken bewertet. Ein Beispiel hierfür ist die Anforderung, Forschungsergebnisse (in ihrer Form) in der Projektantragsphase zu bestimmen und vorwegzunehmen sowie ihre Wirkung zu quantifizieren. Beides widerspricht der Offenheit und Flexibilität partizipativer Forschung. Es braucht eigene Kriterien zur Bestimmung der Wirkung (Impact) partizipativer Forschung, die ihrer eigenen Logik entsprechen und nicht aus anderen Forschungslogiken übernommen werden. Übergeordnete Kriterien für eine wissenschaftliche Begutachtung, die den Kontext, Forschungsgegenstand und das Forschungsziel partizipativer Forschung berücksichtigen, fehlen bislang oder sind nur wenig definiert. Hier gilt es, zwischen Kriterien zur Bewertung der Strukturen und Prozesse wissenschaftlicher Güte und jener der nachhaltigen gesellschaftlichen Wirkung der Ergebnisse partizipativer Forschung zu unterscheiden. Solche Wirkungskriterien können nicht generalisiert sein, sondern müssen problemadäquat und situativ festgelegt werden.
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Erfahrungen aus der Praxis

Fallvignette 1

In einem Projekt zur Digitalisierung von Gesundheit und Altern wird „Co-Creation“, d.h. partizipative Forschung, als zentrales Ziel definiert. Mit einem Budget von 19 Mio. EUR und 50 Partnerorganisationen sind die Ressourcen für die Umsetzung der Co-Creation-Workshops auf ein Team von drei Personen mit lediglich 450.000 EUR beschränkt. Durch diese im Vergleich geringe Finanzierung der partizipativen Forschung konnte dieser zentrale Teil des Projektes nicht in der erforderlichen Form ausgestaltet werden. Beispielsweise sollten gemeinsam mit den europäischen Pilotregionen 16 Co-Creation-Workshops mit älteren Menschen sowie Personen aus Gesundheit, Politik und Technik organisiert werden. Es fehlten aber unter anderem Mittel für das Einbeziehen von schwer erreichbaren Personen, für das Training der Moderationskompetenzen in den Pilotregionen und für die Übersetzungsarbeit der Ergebnisse.

Fallvignette 2

Ein Forschungsprojekt untersuchte datenbasierte Arbeit in der öffentlichen Verwaltung. Das Ergebnis war ein anwendbarer Prozess zur Evaluierung von Value-Sensitive Design, welcher in sechs Sprachen übersetzt und in verschiedenen europäischen Verwaltungen implementiert wurde. Der Erfolg durch Verbreitung und Nutzung dieser Handlungsanweisung für verantwortungsvolle Datenpraktiken zeigt Wirkung und erlaubt eine Messung, jedoch kann der intendierte Impact auf die Datenpraktiken von Verwaltungen nur schwer gemessen werden. Damit stand das Projekt im Widerspruch zur verbreiteten Entwicklung abstrakter Value Frameworks. Der Bedarf an dieser praktischen Lösung war in der Antragsphase nicht bekannt und somit ein genuines Ergebnis des partizipativen Forschungsprozesses.

Fallvignette 3

In einem partizipativen Projekt zur Entwicklung von robotischen Lösungen für die Pflege stiegen alle beteiligten Pflegekräfte aus. Die Pflegekräfte begründeten ihren Ausstieg damit, dass ihre Expertise und ihr Erfahrungswissen in der Entwicklung ignoriert worden seien, da sie als dissonant zu den Vorstellungen der Technikentwicklung verstanden wurden. Der entworfene Roboter und die an ihn delegierten Aufgaben widersprachen den Bedürfnissen und Arbeitsrealitäten der Pflegekräfte und der pflegebedürftigen Personen. Die Technikentwickler*innen interpretierten den Ausstieg als ein Scheitern der Partizipation. Erst durch diese Eskalation wurde jedoch sichtbar, dass der Roboter anders gestaltet sein müsste, um die Pflegearbeit bedarfsgerecht zu unterstützen.

Fallvignette 4

In einem Forschungsprojekt wurde über mehrere Monate in einem Pflegeheim ein funktionaler Prototyp eines Ortungssystems für Menschen mit Demenz getestet. Gemeinsam mit den Pflegekräften wurden die Handhabung des Sensors und eines Tabletcomputers eingeübt und es wurde ein Prozedere für die Anwendung im Pflegealltag entwickelt. Hin und wieder kommt es zu technischen Problemen, die die Pflegekräfte nicht alleine lösen können. Für diesen Fall haben sie eine Telefonnummer des Forschungsteams erhalten, sodass sie jederzeit anrufen können. Ein Doktorand und eine Doktorandin aus dem Team sind die ‚Kümmerer‘, die auch am Wochenende und abends Anrufe entgegennehmen.


4. Handlungsempfehlungen

1) Der Anspruch, dass Partizipation entweder vollständig und durchgängig oder gar nicht stattfindet, ist unrealistisch und hinderlich. Stattdessen sollte Partizipation dort gefördert werden, wo sie sinnvoll und machbar ist, zum Beispiel bei der Identifikation relevanter Fragestellungen, der Interpretation von Daten, der Anwendung von Ergebnissen oder auch bei der Evaluation des Prozesses sowie des Impacts. Förderformate und -projekte müssen präzise einfordern bzw. benennen, welche Partizipationsformate mit welcher Zielsetzung in welchen Projektphasen zum Einsatz kommen sollen. Flexibilität und eine Anpassung an die jeweiligen Projektphasen sind jedoch entscheidend, um Partizipation im konkreten Kontext wirkungsvoll zu gestalten.

Mögliche Entwicklungsrichtung: Die Ausschreibung eines Mittelgebers beinhaltet ein Modul, das den zur Förderung vorgeschlagenen Projekten vor Projektstart hilft, zu identifizieren, an welcher Stelle im Forschungsprozess partizipativ gearbeitet werden könnte. In einem nächsten Schritt werden innerhalb der Förderlinie Kompetenzen vermittelt und finanzielle Ressourcen bereitgestellt, um die Projekte zu ermächtigen, diese partizipativen Teile des Projektes methodisch angemessen und verantwortungsvoll umzusetzen.

2) Wir brauchen mehr Flexibilität und Offenheit in Förderprogrammen, da z.B. Zielvorgaben häufig zu eng vordefiniert sind, etwa in Form funktionaler Prototypen oder politischer Handlungsempfehlungen. Dies erfordert mehr Vertrauen seitens der Mittelgeber und Forschungseinrichtungen in den Prozess, in die wissenschaftliche Stringenz sowie in die Rechenschaftspflicht und Kohärenz der partizipativen Forschung. Ebenso braucht es geschützte Experimentierräume (bspw. Workshopformate), in denen Akteur*innen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Praxis kollaborativ und partizipativ neue Förderformate und Forschungsfragen entwickeln können.

3) Vergabeentscheidungen müssen sensibel für die Güte von Strukturen und Prozessen der partizipativen Forschung sein, damit Mittelgeber sowie Gutachter*innen in der Lage sind, diese angemessen zu bewerten. Kriterien für die Güte der Strukturen und Prozesse partizipativer Forschung sind unter Einbezug der Forschungscommunity zu definieren, bei Vergabeentscheidungen transparent zu kommunizieren und zu berücksichtigen.

Mögliche Entwicklungsrichtung: Ein Mittelgeber hat ein explizites Leitbild zur Rolle von Partizipation in seinen Förderprogrammen: In jeder Ausschreibung wird formuliert, in welcher Form, Tiefe und Breite partizipative Maßnahmen in der Förderlinie angedacht bzw. gewünscht sind. Eine angemessene Mittelausstattung für diese Aufgaben ist in der Ausschreibung einkalkuliert. Der Mittelgeber verfügt über eine mit den wissenschaftlichen Communities abgestimmte Liste an Kriterien zur Bewertung der Adäquanz und Güte, die so operationalisiert sind, dass Gutachter*innen diese für ihre Arbeit anwenden können. In der Diskussion der Begutachtungen werden diese Kriterien durch Mitarbeiter*innen des Mittelgebers in Erinnerung gerufen und deren Operationalisierung in den Gutachten kontrolliert. Bei positiven und negativen Förderentscheiden kann der Mittelgeber/die Mittelgeberin den Antragstellenden detailliertes Feedback zur Entscheidung geben.

4) Mittelgeber sollten in ihren Ausschreibungen einfordern und Projektleitungen in ihren Anträgen explizit machen, dass die innere Struktur von partizipativen Forschungsprojekten in gleicher Weise Moderation und Aushandlung benötigt, wie die Moderation des partizipativen Forschungsprozesses nach außen, etwa gegenüber den Partizipierenden. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn dabei verschiedene wissenschaftliche Disziplinen zusammenkommen. Dieser Prozess beinhaltet vielfältige Formen der Beziehungs-, Kommunikations-, und Care-Arbeit.

Mögliche Entwicklungsrichtung: In einer Ausschreibung für partizipative Forschung werden Antragsteller*innen nicht nur dazu angehalten, ihre Methodik zu beschreiben, sondern explizit dazu aufgefordert, darzustellen, wie die innere Zusammenarbeit der Forschungspartner*innen ausgestaltet ist. Dazu gehören alle Maßnahmen, die es dem Team ermöglichen, sich in die Arbeitsweisen und Begrenzungen der anderen hineinzudenken, und deren Implikationen für die Zusammenarbeit und den Projektkontext zu diskutieren. Insbesondere ist die methodische Moderation und Aushandlung von Richtungsentscheidungen im Projekt zu beschreiben, wofür auch explizit Fördermittel beantragt werden können. Diese Maßnahmen und Aktivitäten müssen auch in den jeweiligen Berichtsformaten abgebildet werden.

5) Rechtliche und bürokratische Barrieren bei der Mittelvergabe sollen nicht verhindern, dass unterschiedliche Akteure angemessen in die Projektstruktur eingebunden werden können. Denn eine solche Einbindung ermöglicht die Verteilung von Verantwortlichkeiten und Ressourcen und verhindert eine vereinseitigende Verteilung von Entscheidungsmacht. Es muss sichergestellt werden, dass Ziele der Förderung nicht durch administrative Entscheidungen der Förderempfänger*innen unterlaufen werden. Deswegen müssen rechtliche und bürokratische Prozesse der Mittelvergabe perspektivisch so angepasst werden, dass sie den spezifischen Anforderungen der partizipativen Forschung gerecht werden.

Mögliche Entwicklungsrichtung: In einem transdisziplinären Forschungsprojekt kann das Verbundprojekt einen substantiellen Teil der Fördersumme auf Aufgaben- bzw. Kostenbasis oder durch Unteraufträge, für Anliegen der beteiligten Partner*innen, ausgeben. Dadurch kann das Projekt einem gemeinnützigen Verein ermöglichen, eine Immobilie, die Anlaufstelle für Bürger*innen geworden ist, auch über das Projektende hinaus zu pachten oder Mitarbeitende über das formale Projektende hinaus zu beschäftigen, um die gemeinsam erreichten Ziele zu sichern.

6) Partizipative Forschung unterläuft die Vorstellung, dass Wissen allein in Forschungseinrichtungen erzeugt und im Anschluss in die Gesellschaft transferiert wird. Gerade in der partizipativen Forschung spielen heterogene Wissensformen und Erkenntnisweisen eine wichtige Rolle. Die Prozesse und Ergebnisse der gemeinsamen Wissensgenerierung, insbesondere die wechselseitig bereichernde Zusammenarbeit, sollten anerkannt und wertgeschätzt werden. Das bedeutet nicht nur eine angemessene Mittelausstattung, sondern auch das Schaffen von Mechanismen der Kommunikation und die längerfristige Sichtbarmachung sowie Dokumentation der Produkte dieser Arbeit.

Mögliche Entwicklungsrichtung: In einem partizipativen Forschungsprojekt wird neben klassischer akademischer Forschung auch Praxiswissen und situiertes Wissen für lokale Gemeinschaften generiert. Während die akademische Forschung durch die üblichen Publikationskanäle verbreitet wird, werden andere Formen des Wissensaustauschs wie Nachbarschaftscafés organisiert, in denen implizites Wissen weitergegeben und weiterentwickelt wird. Im Projektbericht und der Kommunikation durch den Mittelgeber wird diese Pluralität der Wissensgenerierung und -weitergabe herausgestellt und als Erfolgskriterium anerkannt.

7) Dissens und Konflikte in partizipativer Forschung sind als Erkenntnisgewinn zu verstehen und zu kommunizieren. Ihnen ist im Prozess Raum zu geben. Erfolgreiche Partizipation zeichnet sich nicht durch vollständigen Konsens aller Beteiligten aus.

Mögliche Entwicklungsrichtung: In einem Bürgerrat wird mit Tischgruppen gearbeitet, die einzelne Thesen und Beschlussvorschläge diskutieren und für das Plenum vorbereiten. Beim Themenfeld „Migration“ werden sehr kontroverse Standpunkte ausgetauscht und es wird kein Konsens erreicht. Die Moderation erkennt die Situation an und es wird keine Beschlussvorlage erarbeitet. Gleichzeitig wird der Dissens aber nicht verschwiegen oder übergangen, sondern als solcher ins Plenum getragen. Dort nimmt das Moderationsteam nach einer Pause eine Intervention vor, bei der die Grundlagen der gemeinsamen Zusammenarbeit und die vereinbarte Qualität der angestrebten Beschlüsse (Grundgesetzkonformität, humanistische Werte) thematisiert werden. Dem Plenum wird die Option gegeben, zu diesem Punkt den Dissens festzuhalten oder in einer gemeinsamen Debatte am Thema weiterzuarbeiten.

8) Die Annahme, dass jede Form von Partizipation automatisch demokratische Werte stärkt, muss kritisch hinterfragt und aufgegeben werden. Partizipative Prozesse können auch für antidemokratische oder diskriminierende Ziele instrumentalisiert werden. Stattdessen bedarf es einer klaren Differenzierung zwischen legitimen und manipulativen Ansätzen sowie transparenter Kriterien zur Bewertung der demokratischen Qualität von Partizipation. Die Forschenden müssen ihre Werthaltungen und die Grundregeln der partizipativen Zusammenarbeit im Vorfeld aushandeln und für alle Teilnehmenden in transparenter Weise kommunizieren.

Mögliche Entwicklungsrichtung: Den Teilnehmenden eines Forschungsprojektes wurden Angebote aus der politischen Bildungsarbeit gemacht, um die Voraussetzungen der eigenen Arbeit und die Handlungsfähigkeit im Rahmen des Projekts und seiner Ziele zu klären. Die Forschenden und die Teilnehmenden reflektieren diese Werthaltungen und Grundregeln kontinuierlich in den verschiedenen Phasen des Partizipationsprozesses und setzen diese um bzw. durch. Zentrale Entscheidungsprozesse der Forschenden werden für die Teilnehmenden veröffentlicht, damit diese nachvollziehen können, ob/wie/warum ihre Beiträge berücksichtigt bzw. nicht berücksichtigt wurden.

9) Um die Integrität partizipativer Prozesse zu sichern, bedarf es neuer Strukturen, in denen die good practices partizipativer Forschung gesichert, reflektiert und weiterentwickelt werden können. Dies sollte z.B. durch die Etablierung methodenkritischer Diskurse initiiert werden. Auch ist eine Diskussion zu „Rules of Engagement“ zu den Handlungsspielräumen und der Rolle von Wissenschaftler*innen hinsichtlich Kollaborationen mit externen Organisationen notwendig. Solche Prozesse können verhindern, dass die wissenschaftliche Integrität untergraben und der soziale Impact partizipativer Forschung eingeschränkt wird. Darüber hinaus müssen Forschungsorganisationen ein Bewusstsein und Maßnahmen entwickeln, um auf polarisierende gesellschaftliche Debatten hinsichtlich wissenschaftlicher Arbeit und Ergebnisse effektiv zu reagieren und Mitarbeiter*innen adäquat zu unterstützen sowie, wenn notwendig, zu schützen. Für die Weiterentwicklung von Evaluationen gilt es, Ansätze aus verschiedenen Disziplinen, die partizipativ forschen, aufzubereiten, zusammenzuführen und so gewonnene Erkenntnisse in Forschung und Praxis zu verbreiten.

10) Um mit der Vielfalt an Perspektiven und Erfahrungen produktiv, also erkenntnisgenerierend umzugehen, braucht es gute Moderation von partizipativer Forschung. Partizipative Prozessmoderation ist eine Kompetenz unter anderen, die anerkannt, gefördert und gestärkt werden muss. UmDissens auszuhalten und fruchtbar zu machen, braucht es zusätzliche Entwicklungsräume und Fortbildungsstrukturen sowie die Möglichkeit, falls nötig, auf externe Moderation zurückzugreifen.

11) Es braucht Forschungsinitiativen, die mit der ergebnisoffenen Kollaboration zwischen Stakeholder-Gruppen und Wissenschaft beginnen, statt an stark vorstrukturierten Problemdefinitionen anzusetzen. Dafür braucht es Formate, die bei der proaktiven Problemerhebung diverse gesellschaftliche Sektoren und Gruppen einbeziehen, um lebensweltlich relevante Bedarfe aufzudecken und Forschungsfragen zu entwickeln.

Mögliche Entwicklungslinien: Ein Gremium von Bürger*innen, Mitarbeiter*innen der öffentlichen Verwaltung und Stadtforscher*innen erhebt gemeinsam relevante Problemstellungen, Herausforderungen und Priorisierungen für die urbane Transformation, z.B. Klimawandel, Migration, demographischer Wandel etc.

12) Partizipative Forschung in ihrer Vielfalt muss längerfristig und nachhaltig organisiert und gefördert werden. Dafür braucht es, über den klassischen, begrenzten Projektzyklus hinaus, andere Zeithorizonte, in denen die partizipative Zusammenarbeit verankert ist – von der Co-Definition relevanter Fragestellungen bis zur gemeinsamen Evaluation der Ergebnisse. Durch andere Zeitstrukturen können Community-Building, Netzwerkbildung und -Pflege sowie Kooperation langfristig angelegt sein.

Mögliche Entwicklungsrichtung: Forschungsorganisationen etablieren verlässliche Kontakte zu Stakeholder-Gruppen aus ihrem räumlichen oder thematischen Umfeld. Die dafür notwendige Beziehungs- und Kommunikationsarbeit ist bezahlt und wird von Mitarbeiter*innen geleistet, die dafür kompetent sind und ausreichend Arbeitszeit haben. Die Menschen werden also nicht erst als Teilnehmer*innen, bspw. durch Aufrufe, angesprochen, sondern sind bereits Teil eines Kommunikationszusammenhangs. So können sie sich selbst besser einbringen, und gemeinsam mit den Mitarbeiter*innen der Forschungsorganisationen außerhalb der Projektlogik Ideen für partizipative Forschungsinitiativen entwickeln.

13) Partizipative Forschung braucht eine Anerkennung ihrer besonderen Aufwände und Anforderungen. Sie beinhaltet Übersetzungs-, Care- und Infrastrukturarbeit. Diese sollten als eigenständige, finanzierte und ernst genommene Handlungsfelder etabliert werden. Benötigt werden stabile Anerkennungsstrukturen für die zum Teil unsichtbare Arbeit, insbesondere für Care-Arbeit, in partizipativen Projekten. Dies umfasst sowohl die Bereitstellung und Finanzierung zeitlicher Ressourcen als auch die Anerkennung dieser Anforderungen bei der Bewertung wissenschaftlicher Karrierewege.

Mögliche Entwicklungslinien: Wie im Beispiel der niederländischen akademischen Richtung der Recognition & Rewards sollen Transferleistungen, Team-Management, Outreach oder auch Care-Arbeit etc. bei der Bewertung und Beförderung berücksichtigt werden. Der universitäre Research Support wird um Kompetenzen und Ansprechpartner*innen in den Bereichen Projektmanagement, der rechtlichen Beratung (z.B. für die Abwicklung von Verträgen mit extra-universitären Partner*innen) und der Erschließung neuer Fördermittel, jenseits der traditionellen Förderformate, erweitert.

Unterzeichner*innen

Heidrun Allert, Christian-Albrechts-Universität Kiel

Katrin Amelang, Universität Bremen

Matthias Berg, Fraunhofer IESE Kaiserslautern

Arne Berger, Hochschule Anhalt

Andreas Bischof, Technische Universität Chemnitz

Yana Boeva, Universität Stuttgart

Stefanie Büchner, Leibniz Universität Hannover

Claude Draude, Wissenschaftlichen Zentrum für Informationstechnik-Gestaltung, Kassel

Christopher Frauenberger, Interdisciplinary Transformation University Linz, Austria

Carla Greubel, Universität Utrecht, NL

Jeannette Hemmecke, Johannes Kepler Universität Linz

Juliane Jarke, Universität Graz

Martina Klausner, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Tanja Klenk, Helmut Schmidt Universität Hamburg

Felicitas Macgilchrist, Universität Oldenburg

Dana Mahr, Karlsruher Institut für Technologie

Katya Mayer, Department of Science and Technology Studies Wien

Claudia Müller, Universität Siegen

Claudia Müller-Birn, Human-Centered Computing,
Berlin

Christoph Richter, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Mirko Tobias Schäfer, Data School, Utrecht University

Stefanie Schuerz, Zentrum für Soziale Innovation GmbH, Wien

Gabriele Seidel, Medizinische Hochschule Hannover

Ulla Walter, Medizinische Hochschule Hannover

Irina Zakharova, Leibniz Universität Hannover

Theresa Züger, Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft, Berlin